Entschleunigung par excellence

WANDERREITEN IM UNTERENGADIN. EIN ERFAHRUNGSBERICHT.

Als ich am Montagnachmittag von der Bushhaltestelle San Jon am grossen Offenstall vorbeilaufe, steigt mir ein vertrauter Duft in die Nase: Pferde, Wald und Bergluft vermischen sich zu einer Melange, die ein unmittelbares und unvergleichliches Wohlgefühl in mir auslöst. Und schon scheinen ein umtriebiger Alltag und die grelle Welt in weite Ferne gerückt zu sein. Von San Jon aus werde ich in den nächsten drei Tagen unter fachkundiger Leitung in einer kleinen Gruppe über S-charl ins Münstertal, durch die Val Mora und wieder zurück reiten.

Als Kind verbrachte ich nach Möglichkeit jede freie Minute auf San Jon – im Stall beim Ausmisten, bei den Pferden auf der Weide am Frönen, oder hoch zu Ross auf dem Reitplatz und im Wald. Dieser Ort, seine Tiere und Menschen waren mir seit eh und jeh ein sicherer Hafen und wecken ein rares Heimatgefühl in mir. Kein Wunder also, dass es mir hier leicht fällt abzuschalten. Das Macbook ist daheim geblieben, so auch die Yoga-Matte. In diesen Ferientagen möchte ich Formales wie Gewohntes ruhen lassen. Der Umstand, dass mein Gepäck für die nächsten drei Tage möglichst leicht sein soll und in zwei Satteltaschen passen muss, unterstütz die Reduktion aufs Wesentliche zusätzlich.

Am nächsten Morgen dann: frühstücken, Pferd putzen, satteln und bepacken, aufsteigen, los geht’s. Während der täglich sechs bis sieben Reitstunden werden uns die fleissigen Pferde in den nächsten drei Tagen jeweils rund 25 km weit tragen und dabei hunderte von Höhenmeter überwinden. Wir Menschen werden bescheidene Teilstrecken zu Fuss zurücklegen, um die Gelenke der Pferde beim Abwärtslaufen zu entlasten und uns die Beine zu vertreten. Zeit und Raum werden sich zu kaum mehr fassbaren Konzepten wandeln.

Unter strahlend blauem Himmel tragen uns die Pferde durch atemberaubende Landschaften. Abgesehen vom Klappern der Hufe ist es zumeist mucksmäuschenstill – keine klingelnden Handys, dafür andächtiges Schweigen, das immer wieder mal zwecks gemeinschaftlichen Staunens unterbrochen wird. In den Mittagspausen ruhen die Pferde unter Bäumen, während wir uns im Schatten auf die Wiese legen und an unseren Sandwiches knabbern. Manch jemand gönnt sich eine in Arvenduft eingebettete Siesta, andere tauschen in gemässigter Lautstärke Geschichten aus dem Leben. Die Äpfel aus dem Lunchpaket überlassen wir als kleines Dankeschön unseren fleissigen Freunden auf vier Hufen: Mit viel Nachsicht und unermüdlichem Engagement tragen sie uns durch die sommerliche Hitze, die in diesen Tagen auch die majestätischen Berghöhen nicht verschont. Abends am Zielort angekommen, werden erst die verschwitzten Pferderücken liebevoll abgeschwammt und die Futtertröge mit Heu gefüllt, bevor wir zufrieden beim Apéro anstossen. Beim Abendessen legt sich die Müdigkeit dann wie eine weiche Decke über uns und läutet eine frühe Nachtruhe ein.

Nicht nur die Pferde sondern auch der erfahrene Rittführer Martin hinterlässt mit seinem unermüdlichen Einsatz und Grossmut einen bleibenden Eindruck. Von früh bis spät trägt er gelassen und mit einem Lächeln im Gesicht die Verantwortung für die Pferde, uns Menschen und die Route. Ein unglaubliches Gespür für Mensch und Tier zeichnet Martin aus. So sieht er ein jedes der Pferde als eine Persönlichkeit und weiss genauestens um ihre individuellen Bedürfnisse. Nicht nur diesen versucht er bestmöglich gerecht zu werden, nein, auch ein jedes unserer Gruppenmitglieder holt er dort ab, wo der Mensch gerade steht. Aufmerksamen Blickes wacht er über uns, pflegt den nonverbalen Austausch mit den Tieren und scheint bereits feinste Stimmungsregungen erspüren zu können. Ich höre ihn Worte und Ausdrücke benutzen, die mir sonst vor allem aus Unterhaltungen mit Yogi:nis vertraut sind: Achtsamkeit, (innere) Haltung, Energie, Ausrichtung, Klarheit. Mit seiner undogmatischen, offenherzigen Art sorgt Martin für eine überaus angenehme und vertrauensvolle Gruppendynamik und ist mir eine grosse Inspiration.

Als wir am Donnerstagabend etwas müde, aber wohlbehalten und ohne Umwege, wieder in San Jon einreiten, spüre ich, wie sich eine tiefe Zufriedenheit in mir ausbreitet. Während dieser Tage unter dem blauen Engadiner Himmel, auf und neben meinem Lieblingspferd Haroun, der Erde so nahe, frische Bergluft atmend, konnte sich mein Nervensystem einer Totalrevision unterziehen. Nichts scheint dringlich, der Moment trägt mich sanft schwingend mit sich. Ich seufze glücklich und halte zum Abschied meine Nase nochmal an Harouns Hals, um seinen Duft tief einzuatmen und in meiner inneren Erinnerungsschatulle abzulegen. Danke, lieber Freund, für diese wohltuenden Tage und unvergesslichen Momente. Und danke auch San Jon, mit all deinen Menschen und Tieren, die dich zu dem machen, was du bist. Mein Herz ist voll!

Nachträge: